Filmkritiken
Flee
erschienen 30.05.2022
(Arte Mediathek)
Länge 1 Stunde 29 Minuten
Genre Dokumentarfilm, Geschichte, LGBTQ+
Regie Jonas Poher Rasmussen
Cast Daniel Karimyar, Fardin Mijdzadeh, Milad Eskandari
Drehbuch Jonas Poher Rasmussen, Amin Nawabi
Musik Uno Helmersson
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Quelle: themoviedb.org

Flee

8 / 10

Eine auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte des Afghanen Amin Nawabi und seiner Familie, die sich während des Bürgerkriegs zwischen den Mudschahidin und der afghanischen Regierungsarmee auf eine quälende Flucht Richtung Schweden begibt, wo sich sein großer Bruder seit längerer Zeit aufhält. Während der Reise entfaltet sich für Amin ein entsetzliches Teufelsdreieck aus medialer Ausschlachtung der afghanischen Flüchtlinge, permanenter Angst und Selbstbeschränkung, denn er ist bekennender Homosexueller und befürchtet, von seiner Familie dafür verachtet zu werden. In Dänemark lernt er nach der Flucht Kasper kennen, dem er bisher vorgegaukelt hat, als alleinstehender Jugendlicher geflüchtet zu sein, der seine Familie im Bürgerkrieg verloren hat. Doch dies ist mitnichten der Fall. Weil er gegenwärtig vorhat seinen dänischen Freund zu heiraten, möchte er reinen Tisch machen und seine wahre Lebensgeschichte dem Regisseur Jonas Poher Rasmussen anvertrauen, der hier Regie führt und selbst mitspielt. Während Amin auf einem violetten, rautenförmigen Teppich liegt und eine Kamera sein Gesicht von oben filmt, sitzt sein Interviewpartner Jonas schräg gegenüber und hört ihm geduldig zu. Die Animadok präsentiert Amins auferzwungene Schutzlügen und sein Wechselbad der Gefühle, denn er spielt aufgrund seiner Angst mit dem Gedanken, lieber in der US-Universität Princeton zu arbeiten. Andererseits bietet das Interview ihm die Gelegenheit, sein zum Überleben dienendes Lügenkonstrukt aufzubrechen, damit er in seinem neuen Zuhause in Dänemark endlich er selbst sein kann, im Einklang mit seiner Vergangenheit, seiner Familie und seinem zukünftigen Ehemann Kasper.

Die animierte Dokumentation bietet bezüglich des Themas Flucht mehrere Vorteile: Sie kann auf eine realitätsgetreue Zeichnung des Protagonisten verzichten, kann durch die Anonymität freier agieren und ist zugänglicher für ein jüngeres Publikum. Der simplifizierte, schön anzusehende Zeichenstil erinnert bisweilen an den imposanten Bergsteigerfilm Gipfel der Götter, ist aber zunächst gewöhnungsbedürftig durch die stotternde Darstellung der Bewegungen. Doch dadurch bekommen entscheidende Gesten und die Frames auch eine stärkere Wirkung. Die Animationsarten wechseln sich mehrmals: Überwiegend kommt der einfache Stil mit seiner direkten Klarheit zum Einsatz, dann aber auch kräuselnde, wilde Schwarzweiß-Linien, die die Menschen in den dunkelsten Momenten der Flucht umhüllen oder als Übergangsmittel vom Interviewszenario zu Amins Lebensgeschichte dienen – eine emotionale Zusatzebene kommt zum Vorschein. Zwischendurch wird auch echtes Archivmaterial im 4:3-Format gezeigt, um die historische Dimension zu verdeutlichen. Der zugängliche Zeichenstil erzählt eine bestürzende Geschichte in post-sowjetischen Zeiten, in der afghanische Flüchtlinge wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden und ein Problem mit Schleusern offenbart, das sich bis heute nicht geändert hat. Besonders die Szenen auf der stürmischen Ostsee und was danach folgt, sind nur schwer zu ertragen.

Amins Schicksalsbegegnungen und seine Angst vor der Verstoßung angesichts seiner Homosexualität prägen die Handlung. Umso bedrückender und mitreißender ist es mitanzusehen, wie beide Faktoren seinen Weg lenken, später aber auch ein wunderschöner Moment entsteht, in dem er mit seiner Angst konfrontiert wird, den Rasmussen dramaturgisch gut vorbereitet. Zum Ende wären zwei Begegnungen zwischen Amin und Kasper sowie mit der Familie Nawabi wünschenswert gewesen, um zu sehen, wie Kasper seine echte Geschichte aufnimmt und wie es der Familie geht – der Schlusstext kürzt dies ab. Nichtsdestotrotz ist Flee eine einzigartige Animadok, dessen Zeichenstil inklusive der Wechsel die jahrzehntelange Last von den Schultern seines Protagonisten fallen lässt und der Odyssee einen bewegenden Tiefgang verleiht.

Film Flee
erschienen 30.05.2022
(Arte Mediathek)
Länge 1 Stunde 29 Minuten
Genre Dokumentarfilm, Geschichte, LGBTQ+
Regie Jonas Poher Rasmussen
Cast Daniel Karimyar, Fardin Mijdzadeh, Milad Eskandari
Drehbuch Jonas Poher Rasmussen, Amin Nawabi
Musik Uno Helmersson